China ist nicht nur die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt, sondern auch der zweitgrösste Anleihemarkt.1 Kein Wunder, dass Investoren in Schwellenländeranleihen einen Schnupfen bekommen, wenn China niest. Wir glauben jedoch, dass Panik fehl am Platz ist – aus drei wichtigen Gründen.
Zunächst einmal sind die wirtschaftlichen Aussichten Chinas besser als sie auf den ersten Blick erscheinen.
Zwar schwächelt der Immobiliensektor nach wie vor, doch gibt es an anderer Stelle Lichtblicke. Der Inlandstourismus ist mittlerweile höher als vor Covid, und der Auslandstourismus liegt jetzt wieder auf über 50% des Niveaus von 2019 (was auch den übrigen asiatischen Schwellenländern wie Macau, Hongkong und Thailand zugute kommt). Der Dienstleistungssektor im Allgemeinen hält gut stand und die öffentliche Hand investiert hohe Summen.
Zudem hat die chinesische Geldpolitik das Wachstum proaktiv beschleunigt. Die Zinssätze wurden gesenkt und der Immobiliensektor bekam Unterstützung. Die Hypothekenzinsen wurden ausgehend von dem Spitzen-Leitzins um 150 Basispunkte gesenkt. Die Wirkung stellt sich jedoch in der Regel nur zeitverzögert ein, sodass die Kreditnehmer noch nicht von den Vorteilen profitieren. Auf dem jüngsten Treffen des Politbüros haben die Währungshüter zugesagt, antizyklische Massnahmen zu verstärken. Dazu könnten die Unterstützung junger Arbeitsuchender und die Lockerung von Kaufbeschränkungen zur Unterstützung des Immobiliensektors gehören. Bei diesem Treffen wurde erstmals auf den Ausspruch „Häuser sind zum Leben da und nicht zum Spekulieren“ verzichtet – ein wichtiges Signal.
Ökonomen haben kürzlich die Wachstumsprognosen Chinas für 2023 gesenkt – jetzt nähern sich die Konsenserwartungen der offiziellen Prognose von 5% an. Obwohl dies unter den anfänglichen Erwartungen liegt (knapp 6% nach einer kräftigen Erholung im ersten Quartal), ist die Prognose immer noch deutlich besser als im Vorjahr.
Das wiederum dürfte den Schwellenländern allgemein einen attraktiven Wachstumsvorteil gegenüber den Industrieländern verschaffen – und davon profitieren Staats- und Unternehmensanleihen der Schwellenländer.
Wir sehen für dieses und nächstes Jahr einen Wachstumsabstand von rund 4 Prozentpunkten. Das ist ein beträchtlicher Puffer, und selbst wenn das chinesische Wachstum hinter den aktuellen Erwartungen zurückbleiben würde, wäre der Wachstumsabstand zwischen Schwellen- und Industrieländern immer noch erheblich.
Unsere Analyse zeigt, dass ein solcher Abstand historisch gesehen mit der Aufwertung der Schwellenländerwährungen gegenüber dem US-Dollar und der allgemeinen Outperformance von Schwellenländeranlagen einherging (siehe Abb. 1).
Zweitens ist China zwar eindeutig ein sehr wichtiger Teil des Schwellenländeruniversums, seine Dominanz ist jedoch nicht mehr so stark wie früher. Andere Schwellenländer entwickeln sich im Hinblick auf die Gesamtwirtschaft und die Performance der Anlageklasse schon seit einigen Jahren losgelöst von China.
Unterschiedliche Herangehensweisen hinsichtlich der Covid-Lockdowns und der politischen Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie haben dazu geführt, dass sich Wachstum, Zinssätze und Inflation in verschiedene Richtungen entwickelt haben. China hat sich deutlich stärker abgeriegelt als viele andere Länder. Es fängt daher gerade erst an, sich wirtschaftlich zu erholen, und hat nicht wie fast alle anderen Länder mit einem starken Anstieg der Inflation zu kämpfen.
Während andere EM-Zentralbanken, insbesondere in Lateinamerika, die Zinssätze in den letzten zwei Jahren proaktiv angehoben haben, folgt die People’s Bank of China (PBoC) weiterhin einem expansiven Kurs, um das Wachstum zu stützen. Jetzt bereiten sich andere Zentralbanken in den Schwellenländern darauf vor, die Geldpolitik zu lockern, was ihren Märkten für Lokalwährungsanleihen einen enormen Schub geben würde. Bei chinesischen Anlagen wird dieser Schub geringer ausfallen, da sich die PBoC bereits im Lockerungsmodus befindet. Ihre aktuelle geldpolitische Haltung dürfte jedoch eher eine Hilfe als ein Hindernis für das allgemeine Thema der geldpolitischen Lockerung in den Schwellenländern sein.
Die Divergenz unterstreicht auch die abnehmende Abhängigkeit anderer Schwellenländer von China durch die Rohstoffpreisbindung. In den 2000er-Jahren war die chinesische Nachfrage nach Rohstoffen angesichts der damaligen Dominanz der Rohstoffexporteure im EM-Universum eine starke Stütze für die Schwellenländer. Heute sind die Schwellenländer jedoch eine viel diversere Gruppe und das Verhältnis zwischen Rohstoffexporteuren und -importeuren ist viel ausgewogener. Daher ist die rückläufige Rohstoffnachfrage aus China heute für die übrigen Schwellenländer viel weniger ein Problem als noch vor 10 oder 20 Jahren.
Es ist keine grosse Überraschung, dass die Finanzmärkte zwischen Anlagen in China und Anlagen in anderen Schwellenländern unterscheiden (siehe Abb. 2).
Der JP Morgan Local Sovereign Index (GBI-EM) hat seit Jahresbeginn um 10,5% in US-Dollar zugelegt, während der chinesische Index im gleichen Zeitraum um 0,7% fiel. Darin spiegelt sich die Währungsentwicklung wider – während beispielsweise die lateinamerikanischen Währungen in diesem Jahr eine Rally hinlegten, angeführt vom brasilianischen Real, hat der chinesische Renminbi gegenüber dem US-Dollar 3,3% verloren.2
Quelle: Pictet Asset Management.
Drittens sehen wir einige sehr positive Entwicklungen in den Schwellenländern, die potenziell lohnende Anlagemöglichkeiten eröffnen.
Mexiko profitiert von Unternehmen, die ihre Produktion näher an den US-Markt verlagern. Die Immobilienleerstände sind in den grossen mexikanischen Städten deutlich gesunken und die Mietpreise steigen. Insgesamt gehen wir davon aus, dass im Zuge des Near-Shoring die mexikanischen Exporte durch kurz- und mittelfristige Chancen um knapp 3% des BIP angekurbelt werden. Ähnliche Trends sind auch in anderen lateinamerikanischen Ländern zu beobachten. Einige dieser Investitionen waren für China vorgesehen, allerdings werden diese aufgrund der geopolitischen Spannungen zwischen Washington und Peking von China umgelenkt. Schlecht für China, gut für die anderen Schwellenländer.
In Indien und Indonesien hellt sich die Konjunktur auf – beide Länder wachsen zum grossen Teil von innen heraus. Das spricht nicht nur für Staatsanleihen, sondern auch für Unternehmensanleihen bestimmter Sektoren. Unsere Spezialistenteams für Schwellenländeranleihen sind besonders von Green-Energy-Unternehmen in dieser Region sowie vom Infrastruktur- und Verkehrssektor in Indien und Konsumunternehmen in Indonesien angetan. Finanzwerte dürften sich gut entwickeln, da sich das starke Wirtschaftswachstum in einer verstärkten Kreditvergabe niederschlägt.
Auch in einigen Frontier-Märkten sehen wir eine positive Entwicklung. Nigeria hat jüngst den Dschungel an Wechselkursen des Landes harmonisiert und damit eine fokussiertere und vorhersehbarere Geldpolitik und ein nichtinterventionistisches Währungssystem signalisiert. Außerdem wurden teure Kraftstoffsubventionen reduziert, wodurch sich die Haushaltslage des Landes verbessern könnte. Das wiederum sollte das Vertrauen der Investoren stärken und die Kapitalzuflüsse in das Land ankurbeln.
Sambia hat einen bahnbrechenden Deal zur Refinanzierung seiner Schulden geschlossen, und Ghana dürfte nachziehen.
Vorerst glauben wir, dass einige dieser Gelegenheiten überzeugender sind als diejenigen in China, wo einige unserer Portfolios neutraler positioniert sind. Dennoch sind wir der Ansicht, dass China mittelfristig ein wichtiger Teil eines diversifizierten (Schwellenländer-)Portfolios bleibt. Dank seiner grossen Binnenwirtschaft kann das Land seine Politik so steuern, dass sie nicht mit den Entwicklungen an anderen Orten der Welt korreliert.
Aktuell gefällt uns der chinesische Technologiesektor. In jüngster Zeit gab es nach drei Jahren starker regulatorischer Eingriffe deutlich freundlichere politische Signale. Dagegen bleiben wir gegenüber dem Immobiliensektor vorsichtig eingestellt.
Insgesamt halten wir die Abschwächung des chinesischen Wachstums für überschaubar, zumal das Land bereits weitere Unterstützung durch die Währungshüter angefordert hat. Die Talsohle dürfte seit dem zweiten Quartal hinter uns liegen. Die Aussichten für Schwellenländeranleihen sind nach wie vor gut. In China und vielen anderen Ländern bieten sich attraktive Chancen.
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