Ganz oder gar nicht: Survival-Guide für den exponentiellen Wandel

Wir brauchen ein Software-Upgrade, um den exponentiellen Wandel zu bewältigen, sagt Technik-Guru Peter Diamandis, Vorsitzender der XPrize Foundation und Mitbegründer der Singularity University.

Als sich der Mensch vor rund 150.000 Jahren in der Savanne entwickelte, war die Welt lokal und linear.

Alles in unserem Leben war höchstens einen Tagesmarsch entfernt, und über Jahrtausende hinweg änderte sich nichts. So haben unsere Gehirne gelernt, Dinge, die nicht linear waren, dennoch linear erscheinen zu lassen.

Heute ändert sich dagegen alles um uns herum von Minute zu Minute.

Das verursacht je nach Sichtweise disruptiven Stress oder disruptive Chancen. Doch ganz egal, ob wir den Wandel als Belastung oder Chance begreifen: Wir brauchen dringend ein Software-Upgrade.

Lassen Sie mich verdeutlichen, warum.

Die durchschnittliche Lebenserwartung eines S&P-500-Unternehmens beträgt heute nur noch 15 Jahre – in den 1920ern waren es noch 67 Jahre. Und Prognosen zufolge werden 40 Prozent der Fortune-500-Unternehmen in 10 Jahren nicht mehr existieren.

Am Beispiel von Kodak – einst ein Unternehmen mit einem Wert von 28 Milliarden USD und 140.000 Mitarbeitern – lässt sich das Ausmass der Schwierigkeiten erahnen, mit denen Unternehmen heute konfrontiert sind.

1996 entwickelte Kodak eine Digitalkamera, doch der Vorstand sah den Geschäftsbereich des Unternehmens im Papier- und Chemikaliensektor und verwarf die Idee. 2012 ging Kodak – mit inzwischen nur noch 17.000 Mitarbeitern – pleite. Verdrängt von einer Technologie, die das Unternehmen selbst entwickelte hatte.

Solche Kodak-Momente beobachten wir immer und immer wieder. Twitter geht an die Börse – die Videoverleih-Kette Blockbuster geht pleite.

Unser Problem besteht darin, dass wir nicht voll und ganz begreifen, was es heisst, in Zeiten exponentiellen Wandels zu leben.

Wir fühlen uns wohl in unserer linearen Welt. Wir wissen, dass wir nach 30 linearen Schritten – die alle gleich lang sind – am Ende etwa 30 Meter von dem Punkt entfernt stehen, an dem wir losgegangen sind.

Sind wir allerdings gezwungen, exponentiell zu denken, sieht das ganz anders aus.

Es fällt uns schwer zu verstehen, dass wir nach 30 exponentiellen Schritten, die jeweils doppelt so lang sind wie der vorherige Schritt, am Ende mehr als eine Milliarde Meter – oder 26 Erdumrundungen – von unserem Startpunkt entfernt sind.

Um die Konsequenzen exponentiellen Wandels zu verstehen und zu erklären, habe ich zusammen mit meinen Partnern die Singularity University im Silicon Valley gegründet, die sich damit beschäftigt, wie sich Technologien im Zusammenspiel entwickeln und die Geschäftswelt auf den Kopf stellen.

Inspiriert hat mich dabei die Kraft des Mooreschen Gesetzes: die 1965 gemachte Entdeckung, dass sich die Verarbeitungsleistung integrierter Schaltkreise jedes Jahr verdoppelte und sich diese Entwicklung auch in Zukunft fortsetzen würde. Im Vergleich zu damals sind Mikrochips heute 10.000-mal schneller und 10-Millionen-mal günstiger – eine Verbesserung um das 100-Milliardenfache innerhalb von knapp 50 Jahren.

Dies wiederum hat die Entstehung anderer disruptiver Technologien wie die des 3D-Drucks, der Robotik, der Virtual Reality und der Künstlichen Intelligenz ermöglicht, die zusammen Geschäftsmodelle hervorbringen, die unser Leben grundlegend verändern werden.

Innovationen senken die Kosten so drastisch, dass Dinge, die einst eine Seltenheit waren, auf einmal überall zur Verfügung stehen. Und mit den fallenden Kosten von IT-Geräten erhalten immer mehr Menschen Zugang zum Internet.

Uns steht eine Erkenntnisexplosion bevor. Wir werden in einer Welt des absoluten Wissens leben, wo wir alles jederzeit und überall erfahren können.

Das bringt mich zum Thema „Moonshot Thinking“. Dabei geht es darum, uns Problemen und Herausforderungen zu stellen, deren Bewältigung wir einst für unmöglich hielten. Ein Moonshot – das bedeutet für mich, zehnmal weiter zu gehen, wenn alle anderen nur 10 Prozent weiter gehen. Es bedeutet, ganze Geschäftsmodelle von Grund auf neu zu betrachten.

Hier sind drei meiner Moonshots.

Ich habe Medizin studiert. Mein erster Moonshot besteht deshalb darin, die Lebenserwartung des Menschen zu verlängern. Es gibt keinen Grund, warum nicht eine doppelt oder dreimal so lange Lebenserwartung möglich sein sollte. Deshalb habe ich zusammen mit zwei Freunden Human Longevity Inc gegründet. Unser Ziel: 100 soll das neue 60 werden. Wir nutzen Methoden zur Sequenzierung des menschlichen Genoms, um Millionen von integrierten Gesundheitsdatensätzen zu erzeugen, mit deren Hilfe wir dann Krankheitsrisiken prognostizieren und Pläne erstellen, um das Eintreten dieser Risiken zu verhindern und das Leben zu verlängern.

Mein zweiter Moonshot ist es, der Menschheit besseren Zugang zu Bodenschätzen zu verschaffen, indem wir sie mithilfe von Weltraumdrohnen auf erdnahen Asteroiden abbauen. Wir bauen Fahrzeuge in realer Grösse, die nach Brennstoffen und Platinmetallen suchen sollen, denn diese kommen auf Asteroiden deutlich häufiger vor als in Abbaugebieten auf der Erde.

Der dritte Moonshot besteht darin, Innovationen zu fördern, die sich der Lösung der grössten Herausforderungen der Menschheit widmen. Erfolgreich umgesetzt haben wir dies mit dem mit 10 Millionen USD dotierten Ansari XPrize, der an eine Nichtregierungsorganisation vergeben wurde, die drei Menschen innerhalb eines zweiwöchigen Zeitraums zweimal in den Weltraum geschickt hatte. Der Wettbewerb hat 26 Teams dazu motiviert, mehr als 100 Millionen USD zu investieren. Daraufhin haben wir die XPrize Foundation gegründet, um diese Dynamik aufrechtzuerhalten. Inzwischen haben wir 34 Millionen USD an Preisgeldern vergeben. Weitere 82 Millionen USD warten bereits auf ihre Ausschüttung.

Ich bin überzeugt, dass wir in einer Zeit aussergewöhnlicher Möglichkeiten leben, in der wir ein Problem, wenn wir es sehen, auch lösen können. Wir leben in einer Zeit aussergewöhnlichen Überflusses, und vor uns steht eine Zeit aussergewöhnlicher Innovationen.